Die Hevener Glocken

Das erste Geläut (1901-1917)

Nachdem sich die Größere Gemeindevertretung im November 1899 dazu durchgerungen hatte, die Kirche sofort mit einem Turm auszustatten, wünschte sie sich ein Geläut alten Stils, d.h. aus Bronze. Allerdings galt es in der preußischen Staatskirche als selbstverständlich, dass den militärischen Belangen von Volk und Vaterland der Vorrang gebührt. Bronze bzw. Messing war damals ein begehrtes Metall bei der Produktion von Gewehren, Kanonen, Kriegsschiffen und anderen Rüstungsgütern. Deshalb geschah es ganz im Sinne des Kriegsministeriums des Deutschen Reiches, dass der Bochumer Verein seit Mitte des 19. Jahrhunderts fabrikmäßig Glocken aus Stahl herstellte. Diese klangen zwar härter mitunter dröhnend. Dafür aber waren sie genehmigungsfrei und galten als ehrenvoller vaterländischer Beitrag. So beschloss denn das Presbyterium am 3. Oktober 1900, der Größeren Gemeindevertretung Stahlglocken zu empfehlen. Diese stimmte aber nur für den Fall zu, dass "eine Bitte um Bronze von den hohen Militärbehörden abschlägig beschieden werden sollte."

 

Das war glücklicherweise nicht der Fall. Die hohen Militärbehörden erhoben keine Einwände, und so wurden denn bei mehreren traditionellen Glockengießern Angebote eingeholt. Am 12. Mai 1901 gab die Größere Gemeindevertretung den Zuschlag an den seit 1865 in Witten tätigen Gießer Carl Munte*, der die Lieferung und Montage eines Bronzegeläuts im Wert von 6125,20 M. angeboten hatte. Zur Finanzierung wurde Folgendes protokolliert: "Da der Gemeinde ca. 4000 M. zur Verfügung stehen, so wird beschlossen, falls der Kollektenertrag es nötig machen sollte, den Restbetrag bei Kirchmeister Winkelmann anzuleihen."

 

Das Geläut wurde im Spätsommer 1901 in Witten gegossen und im September von Musikdirektor Kuche (Soest) für harmonisch befunden. Nach einem Entwurf von G.A. Fischer ließ man durch die Fa. Franzen einen Glockenstuhl aus Eichenholz "mit einigen eisernen Balken darin" in den Turm einbauen. Das Läuten erfolgte im Kircheneingang durch lange Seile, wobei dem Küster regelmäßig die Konfirmanden helfen mussten. Im Oktober 1901 erließ das Presbyterium hierfür eine Läuteordnung. Aus ihr ist zu ersehen, dass damals, obwohl von Hand, wesentlich länger geläutet wurde als heutzutage.

Presbyter und Gemeindevertreter mit P. Baxmeier (4. von rechts) nehmen das erste Geläut in Empfang.

Die Glocken hatten 1315, 1090 und 870 mm Durchmesser und waren auf den Moll-Dreiklang d-f-a abgestimmt **. Über das Gewicht wissen wir nur, dass die beiden tiefen Glocken zusammen 2130 kg wogen, also bereits mehr als alle 6 Glocken des derzeitigen Geläuts zusammengenommen.

 

Als Inschriften hatte das Presbyterium am 9.6.1901 von unten nach oben festgelegt:

1) Ehre sei Gott in der Höhe

2) Ein feste Burg ist unser Gott

3) Jesus Christus gestern und heute

Auf die große Glocke sollten außerdem die Namen der Presbyter und des Geistlichen gesetzt werden, "unter der Bedingung, daß dadurch keine Mehrkosten entstehen."

Mitte September konnten das Presbyterium und die Gemeindevertretung die großen bronzenen Klangkörper in Empfang nehmen. Gerade noch rechtzeitig zur Einweihung der Kirche wurden sie im Turm hochgezogen, montiert und zum ersten Mal bewegt. Der tiefe und volle Mollakkord muss wunderschön geklungen haben. Vor der feierlichen Inbetriebnahme des Geläuts hätte es gewiss gut gepasst, wenn Hauptlehrer Bierbrodt zwei seiner Schülerinnen oder Schüler die folgenden Strophen aus Schillers Glockenlied hätte vortragen lassen:

Holder Friede,

süße Eintracht

weilet, weilet

freundlich über dieser Stadt!

Möge nie der Tag erscheinen,

wo des rauhen Krieges Horden

dieses stille Tal durchtoben!

 

Jetzo mit der Kraft des Stranges

wiegt die Glock' mir aus der Gruft,

daß sie in das Reich des Klanges

steige in die Himmelsluft:

Ziehet, ziehet, hebt!

Sie bewegt sich, schwebt.

Freude dieser Stadt bedeute,

Friede sei ihr erst' Geläute.

Die erste Läuteordnung von 1901. Auszug aus dem Protokoll des Presbyteriums vom 05.10.1901.

Knapp 13 Jahre später erklärte das Deutsche Reich den Krieg an Russland und Frankreich. Unter Verletzung der belgischen Souveränität marschierten deutsche Truppen in Richtung Paris. Nach den verlustreichen und ergebnislosen Schlachten im Westen 1915 und 1916 rief die Reichsregierung, statt Frieden zu schließen, zu neuen Rüstungsanstrengungen auf. Hierzu boten auch die Kirchen ihre Mithilfe an. Am 17.6.1917 teilte Pastor Baxmeier dem Presbyterium mit, "dass [...] für diejenigen Glocken, welche bis zum 1. Juli ausgebaut sind, eine besondere Prämie gezahlt wird, die für die hiesige Gemeinde etwa 2000 M betragen würde, wenn alle 3 Glocken abgeliefert werden." Daraufhin beschloss das Presbyterium, "die beiden großen Glocken zur Verfügung zu stellen und zum 1. Juli ausbauen zu lassen. [...] Herr Munte Nachf. soll einen Kostenanschlag machen und die Arbeit ausführen."

 

Genauso geschah es unverzüglich. Es handelte sich nicht um eine staatliche Beschlagnahmung, sondern um ein freiwilliges Opfer der Kirchengemeinde für das deutsche Vaterland. "Die beiden großen Glocken [...] sind infolge der Kriegsnöte im Jahr 1917 dem Reiche zur Verfügung gestellt worden", schrieb später Pfarrer Baxmeier in die Chronik des Lagerbuches.

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* Carl und August Munte kamen 1865 nach Witten, starben aber bereits 1905, so dass die Gießerei 1908 in andere Hände kam. Von Carl Munte stammten u.a. alle Glocken der zerstörten Gedächtniskirche, der Marien- und der Franziskuskirche. Laut Angaben von Frau Wilhelmine Munte, der Tochter des Firmengründers, 1988

** Die falsche Tonfolge d-f-h statt d-f-a im Presbyteriumsprotokoll vom 28.4.1901 beruht vermutlich auf einem Hörfehler des Protokollaten.