Die Hevener Glocken

Das zweite Geläut (1925-1943)

Fast acht Jahre hörte man vom Kirchturm nicht mehr den vertrauten Dreiklang. Nur die hohe Glocke läutete noch, als riefe sie wehmütig nach ihren verschwundenen Schwestern. Gern hätte die Gemeinde in jenen notvollen Jahren ihr schönes, volles Bronzegeläut zurück gehabt. Sein harmonischer Klang wäre ihr wie der Gruß aus einer besseren Welt gewesen, wo es keine Kriegskrüppel und Kriegswaisen, keine Teuerung und keinen Hunger gab. Schon im letzten Kriegsjahr hatte das Presbyterium einen Glockenfonds gebildet, der bis 1923 trotz der Armut auf 2074 M. angewachsen war. Aber dann kam die Inflation, und am Ende war dieses Sparguthaben entwertet.

 

Erst am 31.7.1924, acht Monate nach Einführung der Rentenmark, konnte die Größere Gemeindevertretung wieder aktiv werden. Sie entschloss sich, eine große Haussammlung durchzuführen. Es war ein Kraftakt sondergleichen. Man teilte die Gemeinde in 5 Sammelbezirke auf, die im Laufe des Monats August Haus für Haus von insgesamt 10 Gemeindevertretern besucht wurden. Es sammelten in Heven Dorf die Herren Lapp und Flor, in Lake, Insel und Knapp die Herren Bierbrodt und Bormann, in Heven-Mitte und Kleinherbede die Herren Weber und Siepermann, in Wannen die Herren Kothe und Stratmann, auf der Krone und in der Mark die Herren Böckmann und Hahne.

 

Gemeindeglieder, die derzeit kein Geld hatten, aber sich doch an der Sammlung beteiligen wollten, wurden gebeten, "den gedachten Betrag einstweilen zu zeichnen mit der Bestimmung, die gezeichnete Summe bis zum 15ten Oktober an die Sammelkasse zu zahlen. Vertretungen wollen auf diese Weise sich einen Überblick über die Summe und die Möglichkeit, ein Geläut zu erwerben, verschaffen."

 

Diese Haussammlung, die man notwendigenfalls mehrmals wiederholen wollte, war ein riskantes Unternehmen, fiel sie doch in das erste Jahr nach der Inflation, als noch große Bargeldknappheit und hohe Erwerbslosigkeit herrschten. Tatsächlich reagierten Teile der Arbeiterschaft mit bitterer Kritik: "Erst geben die da oben zwei Glocken für den Krieg, und jetzt sollen wir ihnen Geld für neue geben. Die sollen lieber für die Erwerbslosen sammeln gehen! Genügt zum Läuten nicht die kleine Glocke?"

 

Finanziell wurde die Sammlung dennoch ein großer Erfolg. Am 7.11.1924 konnte eine inzwischen vom Presbyterium gebildete Glockenkommission den Eingang von 3798 RM feststellen. Hinzu kam die Zusage eines Vorschusses von 2000 RM aus Reichsmitteln. Daraufhin erteilte das Presbyterium im Dezember 1924 der Firma Munte Nachf. den Auftrag, für 5400 RM "das alte Geläute wiederherzustellen." Da die Wittener Firma das Gießen inzwischen eingestellt hatte, ließ sie die 2 Bronzeglocken in Kommission von der Firma Junker und Edelbrock in Brilon herstellen. Dort konnten sie erst in der ersten Aprilwoche 1925 gegossen werden.

 

Herr Stratmann leitete den Transport auf den Kirchplatz, wo die Größere Gemeindevertretung bereits versammelt war und nun mit Genugtuung feststellen konnte: Es waren nach Form und Größe die gleichen Glocken wie die für den Krieg abgegeben! Auch die Inschriften stimmten überein. Das Gewicht war mit 1350 bzw. 750 kg bei einer Abweichung von nur 30 Kilogramm identisch mit dem der alten Glocken.

 

Nur bei der Intonation gab es eine geringfügige Abweichung. Die neuen Glocken klangen jeweils um einen halben Ton tiefer, also auf cis und e. Nach Prüfung des gesamten Geläuts stellte sich heraus, dass die übrig gebliebene Glocke dazu nicht mehr passte. Sie wurde kostenlos gegen eine gis-Glocke ausgetauscht. Im Übrigen urteilte der Sachverständige, dass die mittlere Glocke den anderen beiden in der Klangwirkung ein wenig nachstehe. Insgesamt aber sei mit dem neuen Molldreiklang cis-e-gis eine schöne Wirkung erzielt worden. Den Hevenern wird gewiss nicht aufgefallen sein, dass dieser Dreiklang einen halben Ton tiefer stand als der des alten Geläuts. Im Herbst 1925 wurde durch die Firma Bockelmann und Kuhlo zusätzlich eine Läutemaschine installiert.

 

So war also am Ende alles wieder wie vorher, ja besser. Zwar nicht mehr rechtzeitig zu Weihnachten, aber in der Osterzeit erscholl vom Kirchturm wieder der volle Klang und meldete, dass die Kriegsschäden wenigstens bei der Kirche, wie es schien, wieder gutgemacht seien. War das nicht eine frohe Osterbotschaft, eine Auferweckung zu neuem Leben?

 

Den Presbytern müssen solche Assoziationen schon zwischen der erfolgreichen Sammlung und dem Kaufvertrag gekommen sein. Sie ließen auf die große Glocke außer der alten Inschrift zusätzlich folgenden Doppelvers im griechischen Silbenmaß setzen, ein sogenanntes Distichon:

 

"Zwei unsrer Schwestern erlagen / als Opfer des blutigen Krieges.

Opfernde Liebe jedoch / weckte zum Leben uns auf."

 

So eingängig dieser Vers erscheint, so problematisch ist er. Wir sollten eine Zeit lang bei ihm verweilen und ihn genauer untersuchen. Der pathetische Wohlklang dieses Distichons, das im trimetrischen Jambus, einem beliebten Versmaß des deutschen Idealismus, so glatt dahin fließt, sollte uns nicht darüber täuschen, dass hier eine historisch und theologisch fragwürdige Deutung jener schuld- und leiderfüllten Epoche unserer Gemeindegeschichte zum Ausdruck kommt. In Anspielung auf das Karfreitagsgeschehen wird die Herausgabe der Glocken für die Fortsetzung des blutigen Krieges zum Opfer erhoben. Kein Gedanke daran und kein Wort darüber, dass die zu Waffenteilen umgeschmolzenen Klangkörper mitgeholfen haben könnten, Menschen grausam zu verstümmeln und zu töten! Nein, die Glocken "erlagen als Opfer", wie sie selber künden. Als Opfer für wen? Nun, genauso wie die 150 gefallenen Söhne der Gemeinde: für Gott, König und Vaterland! Wie der Kriegstod vor Verdun und Langemaack so wird hier auch das Einschmelzen der Glocken verklärt zur liebevollen Selbstaufopferung, ähnlich der des Erlösers am Kreuz. Was wirklich auf den Schlachtfeldern geschah, dass dort zum Beispiel Tausende junger Männer unter Androhung drakonischer Strafen regelrecht ins Schrapnellfeuer hineingejagt wurden, das wird hier religiös verschleiert. Auch wird nicht nach den Ursachen des Krieges gefragt. Hier geschieht Verklärung statt Erklärung!

 

In der zweiten Vershälfte klingt unüberhörbar der nur zu verständliche Wunsch mit, es möchten doch alle, die um die gefallenen Söhne Leid tragen, durch das wiederauferstandene Geläut sich trösten lassen. Wie der "Engel der Hoffnung" auf dem Fresko der "Kriegerehrung" in der Kirche (siehe oben) so können auch die Glocken mit ihrer Karfreitags- und Ostergeschichte denen eine Auferstehung künden, die ihr Leben im Krieg dahingaben aus Liebe. Dies glaubt man jedenfalls und preist die Wiederherstellung des Geläuts als eine Auferweckung. Diese aber wird bewirkt durch die Gemeinde selbst. Indem die Hevener durch ihr reiches Liebesopfer den Kriegsschaden beseitigten, haben sie eine Erweckung zum Leben vollbracht: "Opfernde Liebe jedoch weckte zum Leben uns auf."

 

Wir müssen einer solchen Glorifizierung der Gebefreudigkeit und einer solchen Verklärung des Kriegstodes energisch widersprechen. Allerdings sollten wir, wenn wir mit zwei Fingern auf diesen Missbrauch der biblischen Botschaft von Kreuz und Auferstehung durch unsere Vorfahren zeigen, daran denken, dass die übrigen Finger unserer Hand auf uns selbst zurückweisen. Ist nicht unser Glaube und weithin auch die Theologie in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg noch viel unerschrockener und leichtfertiger über die vielen Kriege - es gab deren mehr als 100 in diesem Zeitraum! - hinweggehuscht? Haben wir wirklich schon die wahre Antwort des Evangeliums auf die Kriegsfrage vernommen? Haben wir Jesu pazifistische Lehre und Lebensweise, haben wir sein Leiden und Sterben begriffen als aktive Absage an die Gewalt? Glauben wir, dass seine Auferstehung uns einen neuen Weg zum Frieden eröffnet? Und wenn ja, haben wir aus solcher Glaubenserkenntnis die praktischen Konsequenzen gezogen? Oder sehen wir uns als christliche Gemeinde im Blick auf Krieg und Kriegsverhinderung schon längst wieder wie unsere Vorfahren als unzuständig an und überlassen das Thema dem Machtkalkül der Politiker? Inzwischen ist Deutschland nach den beiden Weltkriegen wieder an militärischen Angriffen auf ein anderes Land aktiv beteiligt gewesen. Wir haben erlebt, wie durch die suggestive Macht falscher Fragen und oberflächlich moralisierender Appelle Menschen wieder zur Bejahung massiver militärischer Gewalt bis hin zu Bombenangriffen auf die wehrlose Zivilbevölkerung einer Großstadt verführt werden. Wir Christen haben solche Vereinnahmungs- und Rechtfertigungsversuche zu erkennen und abzuwehren. Wenn staatliche Politik in militärische Gewalt mündet oder sie nicht verhindert hat, dann muss die christliche Gemeinde ihrer Legitimierung widersprechen und darf nicht schweigen. Unsere Aufgabe bleibt es, jenseits falscher Alternativen nach besseren, unkriegerischen Lösungen zu suchen.