14 Jahre nach Wiederherstellung des ersten Geläuts stand das nationalsozialistische Deutschland im Begriff, einen zweiten Weltkrieg zu entfachen. Was sagte die evangelische Kirche in Deutschland dazu?
Am 29. August 1939 wurde auf Betreiben Dr. Werners, des Leiters der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei, ein sog. "Geistlicher Vertrauensrat" gebildet, um diejenigen Maßnahmen zu treffen, die sich "aus der Verpflichtung der evangelischen Kirche gegen Führer, Volk und Staat" ergaben. Dieser Rat gab am 2. September einen Aufruf an das evangelische Kirchenvolk heraus, worin es u.a. heißt: "Seit dem gestrigen Tage steht unser deutsches Volk im Kampf für das Land seiner Väter, damit deutsches Blut zu deutschem Blute heimkehren darf. Die deutsche evangelische Kirche stand immer in treuer Verbundenheit zum Schicksal des deutschen Volkes. Zu den Waffen aus Stahl hat sie unüberwindliche Kräfte aus dem Worte Gottes gereicht. [...] So vereinigen wir uns auch in dieser Stunde mit unserm Volk in der Fürbitte für Führer und Reich, für die gesamte Wehrmacht [...]." Gleichzeitig ging ein Gebetsvorschlag an die Geistlichen zur Verwendung im Gottesdienst hinaus. Darin stand u.a. der Satz: "Noch in jüngster Zeit hast Du uns aufstehen lassen aus Schmach und Not durch die Tat des Führers, den Du uns gabst." Als die Besetzung Polens erfolgreich abgeschlossen war, gab der Vertrauensrat eine Kanzelabkündigung zum Erntedankfest heraus, in der es u.a. hieß: "Gott hat unser Volk noch mit einer anderen, nicht weniger reichen Ernte gesegnet. [...] Wir danken ihm, daß er unseren Waffen einen schnellen Sieg gegeben hat, daß jahrzehntelanges Unrecht [...] zerbrochen ist für [...] einen Frieden der Ehre und Gerechtigkeit [...]." Die Abkündigung endet mit dem pathetischen Vers:
"Wir loben dich droben, du Lenker der Schlachten,
und bitten, wollst stehen uns fernerhin bei!" *
In allen Kirchen Preußens wurde am Erntedankfest 1939 "für den Wiederaufbau der deutschen evangelischen Gemeinden in den wiedergewonnenen Gebieten des Ostens" kollektiert. Pastor Kröner hat sich dem nicht verschlossen. Aber die kriegerische Abkündigung des sog. "Vertrauensrates" hat er nicht verlesen.
Im zweiten Kriegsjahr erließ der Vertrauensrat einen Aufruf zur Ablieferung der Bronzeglocken, in dem es hieß: "Wir wissen, daß es unsere Gemeinden mit Stolz erfüllt, dieses Opfer für den Führer und das Vaterland bringen zu dürfen."
In der Bekenntnisgemeinde Heven war von solchem Stolz allerdings nichts zu spüren. Anders als im ersten Weltkrieg brachte unsere Gemeinde diesmal kein freiwilliges Glockenopfer.** So war noch drei weitere Kriegsjahre lang das volle Bronzegeläut zu hören, freilich mit den erwähnten staatlichen Einschränkungen. Dann aber griff die NS-Regierung zu.
Schon im Mai 1940 war grundsätzlich entschieden worden, dass im Gegensatz zum ersten Krieg "dieses Mal sämtliche Glocken ihre vaterländische Pflicht zu erfüllen" hätten.*** Im Januar 1943 erhielt Pastor Kröner durch das Konsistorium mit dem Vermerk "eilt sehr!" eine "wehrwirtschaftliche Anordnung des Reichskirchenministers Kerrl betr. Metallreserve". In diesem Schreiben versuchte Kerrl zwar noch den Anschein zu erwecken, als gehe es um eine freiwillige "Spende der Kirchen im Lebenskampfe unseres Volkes". Aber offensichtlich rechnete der Kirchenminister bereits damit, dass seine Anordnung auf Unmut statt Begeisterung stoßen werde. Jedenfalls fügte er seiner Verordnung hinzu: "Von einer Veröffentlichung in den Amtsblättern bitte ich abzusehen." Die Herausnahme der letzten noch vorhandenen Glocken sollte keinerlei Aufsehen erregen.
Als dann auf Kosten der Kirchengemeinde die beiden großen Bronzeglocken demontiert und aus dem Hevener Kirchturm gehoben wurden, war das in der Tat kein öffentlichkeitswirksames Ereignis im Sinne der völkischen Wehrbereitschaft. Die Küsterin Grete Anacker stand schluchzend daneben, und ein älterer Hevener soll, für alle Anwesenden hörbar, gesagt haben: "Nun nehmen sie uns das auch noch weg!" Die 1949 erfolgte Eintragung im Lagerbuch der Gemeinde lautet denn auch ganz anders als in Bezug auf den vaterländischen Beitrag 1917: "Die beiden großen Bronzeglocken mußten im Kriege 1939/1945 zu Rüstungszwecken abgegeben werden." Es ist als ein Glücksfall anzusehen, dass die kleine Glocke unangetastet blieb. Allerdings durfte sie, wie oben erwähnt, in den letzten Kriegsjahren kaum noch geläutet werden.
Im zerstörten Nachkriegsdeutschland war zunächst an eine Wiederherstellung des Geläuts nicht zu denken. Man musste froh sein, das schadhafte Kirchendach wieder zu schließen. Am 15.10.1947 beschloss das Presbyterium: "Es soll versucht werden, die beiden Bronzeglocken durch Beschaffung von zwei Glocken vom Lünener Glockenfriedhof zu ersetzen." Dort hatten nicht wenige Pastoren das Eigentum ihrer Gemeinde, soweit es vor Kriegsende nicht mehr eingeschmolzen worden war, wiedergefunden. Andere Glocken, deren Eigentümer nicht festzustellen waren oder deren Kirchen total zerstört waren, wurden an andere Kirchengemeinden weitergegeben. Aber dem Versuch des Hevener Presbyteriums war kein Erfolg beschieden. Weil Bronze nicht erhältlich war, bestellte man beim Bochumer Verein noch 1947 zwei Stahlglocken. Doch wurde dieser Auftrag vor der Währungsreform nicht mehr ausgeführt. Erst Anfang 1949 machte der Bochumer Verein ein Angebot einschließlich Montage für 7400 M.
Natürlich herrschte nach Einführung der D-Mark im Juni 1948 eine ähnlich große Bargeldknappheit wie nach Einführung der Rentenmark im November 1923. Aber in Heven verstand man sich ja inzwischen auf Glockensammlungen, auch in einer Zeit, da jede Mark dreimal umgedreht wurde, bevor man sie ausgab. Am 17.12.1948 beschloss das Presbyterium: "Es soll ein Flugblatt gedruckt werden, durch das die Gemeinde zur Glockenspende aufgerufen wird. Eine Haussammlung soll durch das Presbyterium durchgeführt werden. Die Listen dieser Sammlung sollen zu einem Glockenstiftungsbuch zusammengefaßt werden. Der Vorsitzende soll versuchen, durch Darlehen von vermögenden Gemeindegliedern zur Beschaffung des notwendigen Geldes beizutragen. Die Darlehen sollen zum Sparkassen-Zinssatz verzinst werden." Diese Glockensammlung erbrachte bis August 1949 annähernd 4000 DM. Für den fehlenden Restbetrag wurde ein Darlehen bei der Inneren Mission in Münster aufgenommen in der Hoffnung, "daß unsere Gemeinde durch weitere Opferwilligkeit die restliche Finanzierung lösen wird."
Wie Pastor Kröner im August 1949 in seinen Jahresbericht für die Kreissynode schrieb, war vorgesehen, "daß ein volles Geläut am 31. Oktober 1949 unsere Gemeinde zur Besinnung über die Gabe und Aufgabe der Reformation rufen soll." Daraus wird deutlich, dass es nach dem Wunsch des Pfarrers und gewiss auch des Presbyteriums diesmal nicht um eine Wiederherstellung, nicht um eine Restauration gehen darf, sondern dass Gemeinde und Kirche eine Erneuerung aus dem Wort Gottes nötig haben.
Allerdings ließ sich der Reformationstag als Einweihungstermin nicht einhalten. Zwar wurden die beiden großen Stahlglocken rechtzeitig im Sommer 1949 gegossen. Aber noch vor ihrer Lieferung stellte sich durch Klangmessungen heraus, dass die verbliebene Bronzeglocke musikalisch nicht mehr harmonierte. Sie wurde deshalb an die Kirchengemeinde Balve verkauft und dafür eine dritte Stahlglocke beim Bochumer Verein in Auftrag gegeben. Nach deren Guss wurde durch eine weitere Klangmessung eine störende Quarte festgestellt. Die Glocke musste eingeschmolzen und neu gegossen werden. Über alledem wurde es Ende Oktober. Einschließlich eines passenden Glockenstuhls aus Eisen erhöhte sich der Preis auf 10.364 DM.
Trotzdem war es für die Gemeinde ein großer Freudentag, als sie am 29. Oktober in einer riesigen, mehrstündigen "Prozession" die Glocken aus Bochum abholen konnte. Deren gewaltige Maße erregten großes Aufsehen. Stahlglocken müssen, um dieselbe Tonhöhe zu erreichen, wesentlich größer sein als Bronzeglocken. Die Durchmesser betrugen jetzt 1800, 1515 und 1350 mm, d.h. die mittlere Glocke hatte bereits einen wesentlich größeren Umfang als die größte Glocke des ersten und zweiten Geläuts.
Aus nächster Nähe konnte man auch die eingegossenen Aufschriften studieren. Auf der größten Glocke stand wie bei ihren beiden Vorgängerinnen der Lobpreis der Engel aus der Weihnachtsgeschichte: "Ehre sei Gott in der Höhe." Die mittlere war beschriftet mit dem Schlusssatz der Barmer Theologischen Erklärung von 1934: "Gottes Wort bleibt in Ewigkeit." Die dritte war geschmückt mit dem Gemeindesiegel, dem Bild des Guten Hirten. Alle drei trugen außerdem das ursprünglich vorgesehene Einweihungsdatum: "Heven, den 31. Oktober 1949." Auf einem Lastwagen wurden die Glocken von Frauen der Gemeinde liebevoll geschmückt.
Die Montage im Kirchturm war schwierig und wurde vom Bochumer Verein selbst durchgeführt. Wegen seiner enormen Größe und des höheren spezifischen Gewichtes war das Stahlgeläut mehr als doppelt so schwer wie das erste und zweite Geläut, nämlich gut 4 ½ Tonnen. Schon die kleinste Glocke wog 1 Tonne, also mehr als die größte und die viertgrößte Glocke des heutigen Geläuts zusammen genommen!
Es verwundert nicht, dass die Einweihung erst am 4. Dezember, dem 2. Advent stattfinden konnte. Superintendent Graefe zu Baringdorf stellte den Akt unter das Jeremiawort: "O Land, Land, Land! Höre des Herrn Wort! Rufer sollen die Glocken sein! Rufer zum Worte Gottes in allen Lebenslagen!" Dann setzte das überaus kräftige Geläut ein, dem mit dem Dreiklang cis-e-fis das Te-Deum-Motiv zugrunde lag: "Dich, Gott, loben wir."
37 Jahre später musste auch dieses vierte Geläut verstummen. Um darüber zu berichten, müssen wir weit vorgreifen in eine spätere Epoche der Gemeindegeschichte. Seit Anfang der 80er Jahre machten sich in zunehmendem Maße Risse im Mauerwerk der Kirche bemerkbar. Man dachte zunächst an Bergschäden. Derentwegen hatte die Gemeinde bereits in den zwanziger Jahren erfolgreich prozessiert. Jedoch stellte sich bald beim Läuten ein dumpfes Rammgeräusch ein, welches auf eine andere Ursache wies. Eines Tages fiel auf die Empore aus dem Gewölbe ein Klumpen Mörtel und traf ein Chormitglied. Das Presbyterium bat um Untersuchung des Geläuts durch das Institut für Schwingungsmessung an der Ruhruniversität Bochum. Dieses stellte Ende 1986 fest, dass während des Läutens das Kirchenschiff regelmäßig wie ein Schifferklavier auseinandergezogen und wieder zusammengeschoben wurde. Das Rammgeräusch rührte daher, dass der Glockenstuhl sich bereits aus der Verankerung gelöst hatte. Das Institut drang auf sofortige Stillegung des viel zu schweren Geläuts und empfahl dessen Auswechslung gegen ein wesentlich leichteres, möglichst aus Bronze.
So hob im Sommer 1987 ein riesiger Autokran die schweren Klangkörper aus dem Turm. Sie fanden eine würdige Heimat im Glockenmuseum Gescher, wo sie heute als dessen erstes Stahlgeläut zu besichtigen, nur leider nicht zu hören sind. In Heven vermisst sie wohl jeder, der ihren dunklen, kräftigen Te-Deum-Klang noch im Ohr hat.
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* Aus: W. Niemöller, S. 487 f
** Allerdings war bis in die Kreise der Bekennenden Kirche hinein der Wunsch vorherrschend, Deutschland möge siegreich aus dem Krieg hervorgehen. Zum Beispiel erreichte Pastor Kröner am 18.1.1943 durch den Provinzialmännerdienst folgende Bitte eines Amtsbruders von der Ostfront: "Beten Sie, dass [...] Gott uns und dem Führer Frieden schenke." Wilhelm Körners Reaktion scheint sich aber darin erschöpft zu haben, dass er den Brief zu den Akten nahm.
*** Aus: W. Niemöller, S. 490